„Jedes Tier, vor allem jeder größere Säuger, flieht vor einem überlegenen Gegner, sobald sich dieser über eine gewisse Entfernungsgrenze hinaus nähert. Die Fluchtdistanz, wie Prof. Hedinger, ihr Erforscher, diese Verhaltensweise nennt, wächst in dem Grade, in welchem das Tier den betreffenden Gegner fürchtet.
Mit derselben Regelmäßigkeit und Voraussagbarkeit, mit der ein Tier bei Unterschreitung der Fluchtdistanz flieht, stellt es sich aber zum Kampfe, wenn der Feind sich ihm auf eine ebenso bestimmte, viel kleinere Entfernung nähert. Naturgemäß kommt eine solche Unterschreitung der kritischen Distanz (Hedinger) nur in zwei Fällen vor: wenn der gefürchtete Feind das Tier überrascht, das heißt, von ihm erst bemerkt wird, sobald er sich in nächster Nähe befindet, oder, wenn das Tier in einer Sackgasse steckt und daher nicht fliehen kann. Ein Spezialfall der ersten Möglichkeit liegt vor, wenn ein großes wehrhaftes Tier den herankommenden Gegner zwar bemerkt, aber nicht sofort mit Flucht reagiert, sondern sich versteckt, als hoffe es, der Feind gehe vorüber, ohne es zu bemerken. Will es nun der Zufall, dass der Gegner unmittelbar auf ein Tier, das > sich drückt < stößt, so sieht es sich häufig erst entdeckt, wenn die kritische Distanz bereits unterschritten ist. In diesem Falle erfolgt sofort ein verzweifelter Angriff. Der zuletzt beschriebene Mechanismus ist es, der die Suche nach angeschossenenem Großwild, vor allem nach großen Raubtieren, so ungemein gefährlich macht. Der Angriff, den die Überschreitung der kritischen Distanz auslöst, ist bei weitem der gefährlichste, dessen das betreffende Wesen überhaupt fähig ist.“
(Zitiert aus: Konrad Lorenz: So kam der Mensch auf den Hund, Wien 1960, S. 141 f.)