…“Demokratien bauen ihre Entscheidungen nicht auf wissenschaftliche Theorien. Die beiden politischen Systeme, die das im 20. Jahrhundert getan haben, waren totalitär und tödlich; allein das sollte einen gründlich darüber belehrt haben, dass man die Entscheidung darüber, wie man leben will, nie der Wissenschaft überlassen kann.
Wissenschaft kann Entscheidungen informieren, sie kann auf erwartbare Probleme hinweisen, Szenarien entwerfen oder auch warnen. Aber die lebendige Aushandlung, wie man leben will, was zum Beispiel Bildungs- und Erziehungsziele sind, was die Werte sind, die handlungsorientiert sein sollen – das alles kann nur außerwissenschaftlich begründet werden und ist in freien Gesellschaften immer das vorläufige Ergebnis von Kontroversen, Aushandlungen und Konsensbildungen. Also immer das Ergebnis einer sozialen Praxis. Die Vorstellung, der Energieverbrauch, die Ernährungskultur oder die persönliche Mobilität sei auf Grundlage der Befunde einer wissenschaftlichen Disziplin zu reglementieren, ist horribel. Wer legt denn in einer funktional differenzierten Gesellschaft fest, wer, wo, wie viel zu verbrauchen hat? Führt das zur Einführung von Energiesparlampen in Operationssälen oder zur Zwangseinweisung von Hartz-IV-Empfängern in Passivhäuser? Wer möchte die Ergebnisse der überbordenen Phantasie aushalten, die Öko-Bürokraten entwickeln, wenn sie irgendetwas verregeln dürfen?
Daher kann ausschließlich gesellschaftlich darüber befunden werden, wie viel Zeit gebraucht wird, um den notwendigen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft einzuleiten und voranzutreiben. Die Klimaforschung hat das genauso hinzunehmen wie die Finanzindustrie. Soziale Praxis hat ihre Eigenzeit und Eigenlogik. Freiheit hat so wenig einen Preis wie die notwendigen Überlebensbedingungen, die ein „Ökosystem“ bereithält. Beide sind notwendige Voraussetzungen für eine menschenwürdige Existenz und daher wissenschaftlich nicht verhandelbar.“…
(Zitat aus: Harald Welzer: „Selbst denken – Eine Anleitung zum Widerstand“, S.Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2013, 2. Auflage Februar 2014, Seite 135-136, für weitere Informationen zum Buch klicken Sie bitte auf das nachfolgende Buchcover!)