Der Umgang mit Wölfen in Niedersachsen wird auch jenseits der Grenzen beobachtet. Für uns Schweizer ist der Fall Niedersachsen deshalb von besonderem Interesse, weil die Wölfe hierzulande dasselbe vermeintlich problematische Verhalten aufweisen wie der wenig scheue MT6 und die zaunspringende Goldenstedter Wölfin.
In der Schweiz wurde der Wolf in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausgerottet. Unter Schutz gestellt wurde er 1986. Im Jahr 1995 kehrten die ersten beiden Wölfe aus Italien und Frankreich zurück in die Schweiz. Trotz rechtlichem Schutz, wurden sie wegen zahlreichen gerissenen Schafen und Ziegen bald zum Abschuss freigegeben. So erging es auch ihren nachfolgenden Artgenossen. Erst einige Jahre später wurde mit dem “Konzept Wolf Schweiz“ erstmals ein Managementplan implementiert, der klare Kriterien für den Umgang mit Wölfen festlegte. Auch mit diesem Konzept, das seither mehrfach angepasst wurde, sind Abschüsse von schadenstiftenden Wölfen möglich. Im Jahr 2015 wurde neu auch noch die Möglichkeit eingeführt, die Grösse von Wolfsrudeln zu verringern, wenn die Tiere zu wenig scheu sind oder zu grosse Schäden machen.
Im Vergleich zu Niedersachsen – und meines Wissens auch zu allen deutschen Bundesländern mit eigenen Managementplänen für Wölfe – gibt es im Schweizer Wolfskonzept ein klar definiertes Schadensmass, welches Wölfen zugestanden wird. Im Prinzip darf ein Wolf abgeschossen werden, wenn er 35 Nutztiere in vier Monaten oder 25 in einem Monat reisst. Das gilt jedoch nur im ersten Jahr einer Wolfspräsenz und es ist dabei unerheblich, ob die Nutztiere geschützt waren oder nicht. Ab dem zweiten Jahr einer Wolfspräsenz dürfen für Abschussbewilligungen nur noch gerissene Nutztiere gezählt werden, die trotz Herdenschutz getötet wurden oder die als nicht schützbar gelten. Gleichzeitig reduziert sich aber die Zahl der notwendigen Risse für die Abschussbewilligung auf 15 gerissene Tiere pro Jahr. Dabei ist es egal, wie oft ein Wolf Nutztiere angegriffen hat, entscheidend ist einzig die Zahl der getöteten Tiere.
Wie würde also in der Schweiz mit der Goldenstedter Wölfin umgegangen? Diese hat bereits in den ersten vier Monaten ihrer Präsenz im Bereich der Landkreise Diepholz und Vechta über 50 Nutztiere gerissen (vorausgesetzt man rechnet ihr alle Risse zu, die bestätigt oder vermutet vom Wolf verursacht sind). Es wäre also eine Abschussbewilligung für dieses Tier erteilt worden. Obwohl die meisten der von ihr getöteten Nutztiere bekanntlich nicht geschützt waren, hat sie das zulässige Schadenmass nach Schweizer Definition bereits vor einem Jahr überschritten.
Doch ist die in der Schweiz seit jeher lockere Abschusspolitik überhaupt zielführend? Diese Frage lässt sich ziemlich klar verneinen. Bisher wurden in der Schweiz rund 20 Abschussbewilligungen für Wölfe erteilt, davon konnten aber überhaupt nur acht Tiere dann tatsächlich auch erlegt werden. Folglich traten in fast allen Gebieten, wo schadenstiftende Wölfe geschossen wurden, danach trotzdem wieder Schäden auf – zum einen Teil durch die Wölfe, die den Abschussbemühungen erfolgreich entgangen sind und zum anderen Teil von Wölfen, die in die Lücke der abgeschossenen Wölfe gesprungen sind. Dazu muss aber angefügt werden, dass (mit einer Ausnahme) alle Abschussbewilligungen erteilt wurden nach Schäden an ungeschützten Nutztierherden. Eigentliche Spezialisten, die den Herdenschutz bewusst umgehen, gab es in der Schweiz bisher kaum. Das mag zum einen daran liegen, dass der Herdenschutz in der Schweiz allen Unkenrufen zum Trotz eigentlich sehr gut funktioniert. Zum anderen hängt es aber mit Sicherheit auch damit zusammen, dass Wölfe, die gehäuft Nutztiere erbeuteten, eher früher als später abgeschossen wurden.
Kurz gesagt, lässt sich in der Schweiz beobachten, dass fast jeder Wolf zugreift, wenn ungeschützte Nutztiere verfügbar sind. Sind sie geschützt, sind die Probleme praktisch weg. Es war stets der Herdenschutz, der Rissserien dauerhaft beendet hat und nicht der Abschuss von Wölfen. Dass genau in denjenigen Gebieten, in denen Wölfe geschossen wurden, auch in den Folgejahren wieder Probleme auftraten, ist darauf zurückzuführen, dass mit den Abschüssen der Druck, Herdenschutzmassnahmen zu ergreifen, kurzzeitig weg war. Die Nutztierhalter konnten sich zurücklehnen – bis der nächste Wolf da war. Die Erfahrung zeigt leider (ich wünschte, es wäre anders), dass es für viele Nutztierhalter den aktuellen unmittelbaren Druck des Wolfes braucht, damit sie Schutzmassnahmen ergreifen. Selbstverständlich gibt es auch eine ganze Reihe von Nutztierhaltern, die tatsächlich präventiv tätig werden, aber sie scheinen zumindest in der Schweiz recht klar in der Minderheit zu stehen.
Spannend wird sein, wie es sich mit dem besenderten Munsteraner Jungwolf MT6 verhält. In der Schweiz existieren zwei Wolfsrudel, je eines im Norden und Süden der Alpen. Dasjenige am Calanda in den Nordalpen im Grenzgebiet der Kantone Graubünden und St. Gallen besteht seit 2012. Im Verlauf des letzten Jahres ist es dort zu mehreren Nahbegegnungen zwischen Menschen und Jungwölfen gekommen. Genauso wie die Munsteraner, zeigen die Jungwölfe am Calanda zwar wenig Scheu gegenüber dem Menschen, jedoch kam es nie zu kritischen Situationen. Obwohl das Calandarudel bereits seit 2012 jährlich Nachwuchs produzierte, war bisher offenbar nur der Jahrgang 2014 auffällig. Dass beim Munsteraner Rudel scheinbar auch der Jahrgang 2014 auffälliger ist als die anderen, ist zwar erwähnenswert, aber vermutlich nur ein merkwürdiger Zufall.
Die Schweiz und Niedersachsen gehen mit derselben Situation aber anders um. In der Schweiz ist man zurzeit versucht, zwei Jungwölfe des Rudels in Siedlungsnähe abzuschiessen, damit die restlichen Tiere des Rudels lernen, sich von dort fernzuhalten. Der Abschuss ist also nicht als Bestrafungsaktion für die zu tötenden Jungtiere konzipiert, sondern als Vergrämung des überlebenden Rudels. Mit der Vergrämung von MT6 in Niedersachsen soll hingegen gezielt beim auffälligen Tier ein Lerneffekt herbeigeführt werden. Das sind zwei gänzlich andere Ansätze und es wird – bei allem Bedauern für die Wölfe, die nun vergrämt und vielleicht getötet werden – hoch interessant sein, was der Effekt sein wird. Wird MT6 wirklich scheuer? Lernt das Rudel am Calanda, die Siedlungsnähe zu meiden? Das Erstere hoffe ich, an Letzterem zweifle ich (aus Gründen, die ein ganzes Buch füllen würden).
Die Vergrämung von Wölfen wird in der Schweiz gerade durch meine Organisation immer wieder thematisiert und als Alternative zum Abschuss wenig scheuer Wölfe gefordert. Bisher stellen sich unsere Behörden taub, obwohl Vergrämungen in der Jagdgesetzgebung (dieser untersteht der Wolf in der Schweiz) explizit vorgesehen wären. Sie halten Vergrämungen beim Wolf für quasi nicht machbar. Deshalb beobachtet die Schweiz sehr genau, was in Niedersachsen mit MT6 passiert. Unter Umständen kann sein Fall eine grosse Signalwirkung auf die Schweizer Wolfspolitik haben.
Umgekehrt ist wohl auch nicht auszuschliessen, dass die Schweizer Erfahrung mit dem Versuch eines Abschusses zweier Jungwölfe eine Signalwirkung für Deutschland haben kann. Denn auch das Schweizer Vorgehen ist mehr ein Versuch als sonst etwas. immerhin sieht es bisher gut aus für die Wölfe. Die Abschussbewilligung läuft bereits seit zweieinhalb Monaten und endet Ende März. Bisher konnte kein Wolf geschossen werden. Der Grund dafür ist, dass sich die Tiere bisher kaum gezeigt haben. Das nährt zumindest bei mir Zweifel, dass es sich wirklich um Problemwölfe handelt.
David Gerke
Wolfsmonitor-Kolumnist David Gerke, Schafhirte und Jäger aus Zuchwil in der Schweiz, ist Präsident der „Gruppe Wolf Schweiz (GWS)“ (Link!), der „politischen Stimme der Großraubtiere“ in der Schweiz. Der Verein, der 1997 nach einem Besuch von Wolfsinteressierten beim weltweit bekannten Wolfsforscher Erich Klinghammer in den USA gegründet wurde, hat das Ziel, Hintergrundinformationen über das Verhalten, die Vorkommen und die Ökologie des Wolfes in der Schweiz zugänglich zu machen. Die GWS arbeitet dabei eng mit zahlreichen Fachleuten und Medien zusammen, um wissenschaftlich fundiertes Know-how zu veröffentlichen.