…“Der Wolf ist bekanntlich das traditionelle, wiewohl unfairerweise dafür ausgewählte Sinnbild der finsteren Seite der Menschheit. Das ist in vielerlei Beziehung eine Ironie – nicht zuletzt etymologisch gesehen. Das griechische Wort für Wolf ist lukos, das leukos, dem Wort für Licht, so ähnlich ist, dass die beiden häufig miteinander verknüpft werden. Vielleicht ist diese Verbindung einfach das Ergebnis von Übersetzungfehlern, doch andererseits könnte es einen tieferen etymologischen Zusammenhang zwischen beiden Wörtern geben. Jedenfalls hielt man, aus welchem Grund auch immer, Apollo sowohl für den Gott der Sonne als auch für den der Wölfe. Und in diesem Buch ist die Verbindung zwischen dem Wolf und dem Licht entscheidend.
Man stelle sich den Wolf als die Lichtung im Wald vor. In der Tiefe des Waldes mag es zwar zu dunkel sein, um die Bäume zu erkennen. Die Lichtung ist der Ort, der es gestattet, das Verborgene zu enthüllen. Der Wolf ist, wie ich verdeutlichen möchte, die Lichtung in der menschlichen Seele. Der Wolf enthüllt das, was sich in den Geschichten, die wir über uns selbst erzählen, verbirgt – worauf diese Geschichten hinweisen, was sie jedoch nicht aussagen.
Wir stehen im Schatten des Wolfes. Ein Objekt kann auf zweifache Weise einen Schatten werfen: dadurch, dass es das Licht absorbiert, oder dadurch, dass es die Quelle des Lichtes ist, das andere Dinge absorbieren. Hier geht es um den Schatten, die ein Mensch oder ein Feuer wirft. Mit dem Schatten des Wolfes meine ich also nicht den, welchen der Wolf selbst wirft, sondern den Schatten, den wir im Licht des Wolfes werfen. Und aus diesem Schatten schaut uns genau das an, was wir nicht über uns selbst wissen wollen.“…
(Quelle: Mark Rowlands: „Der Philosoph und der Wolf – Was ein wildes Tier uns lehrt“, Piper Verlag GmbH, München, 2. Auflage März 2014, S. 13-14, für weitere Informationen zum Buch klicken Sie bitte auf das Buchcover unten:)