These 1: Wir brauchen einen allgemein anerkannten und in der Bevölkerung bekannten Maßstab dafür, wann Wölfe als „verhaltensauffällig“ gelten.
Ich hatte bereits zum Blogstart darauf hingewiesen, dass ich die neun Wolfsmonitor-Thesen näher erläutern werde.
Täglich spüren diejenigen – die das Verhalten des Beutegreifers eng verfolgen –nach wie vor die große Verunsicherung in weiten Teilen der Bevölkerung. Das sogenannte „Rotkäppchen-Syndrom“ – eigentlich hasse ich diesen Begriff, da er so klingt, als sei die Furcht vor dem Wolf eine Krankheit– macht weiter die Runde. Uns fehlt scheinbar ein objektiver Maßstab dafür, was als natürliches Wolfsverhalten anzusehen ist und was nicht, denn wir durften in den letzten Wochen lernen, dass die sprichwörtliche Scheu der Wölfe nicht mit der Angst der Wölfe vor den Menschen verwechselt werden sollte. Ein gesunder Wolf, so heißt es, geht dem Menschen meistens großräumig aus dem Weg. Stimmt, meistens, aber halt nicht immer. Gerade junge Wölfe, die auf Revier- oder Partnersuche sind, verhalten sich manchmal weniger scheu, als es vielen Menschen lieb ist. Es darf an dieser Stelle betont werden, dass es – bis auf einen Vorfall am Osterwochenende 2015, bei dem ein Jäger aus seiner Not heraus einen scheinbar angreifenden Wolf mit einem Schuss aus seiner Kurzwaffe in den Boden vertrieb –seit der Rückkehr der Wölfe keinen Fall gegeben hat, wo sich Wölfe gegenüber Menschen aggressiv zeigten. Derart spektakuläre Einzelfälle, wie der eben beschriebene, verschlechtern allerdings das Image des harmlosen Wolfes sprunghaft. Zurzeit haben deshalb wieder einmal Verhaltensregeln in den Medien Konjunktur. Da sind dann so tolle Ratschläge zu lesen wie: „Genießen Sie den Anblick des Wolfes und klatschen Sie in die Hände, wenn er Ihnen zu nahe kommt…“.
Wann aber nun ist ein Wolf ernsthaft als „verhaltensauffällig“ einzustufen? Ich werfe einmal einen Blick in den Wolfsmanagementplan des Landes Mecklenburg Vorpommern und schaue, was ich dort finde. Mecklenburg-Vorpommern ist nur ein Beispiel, ich hätte auch einen anderen Plan auswählen können, die Inhalte klingen stets sehr ähnlich. Auf der Seite 16 steht dort geschrieben, dass Wölfe dann als „problematisch“ angesehen werden, wenn
• sie dreistes Verhalten zeigen, das Menschen gefährden kann
• oder sie dauerhaft unerwünschtes Verhalten zeigen, das zur Ablehnung aller Wölfe führen kann
und sie dieses Verhalten wiederholen und es sich dadurch intensiviert.
Wird demnach ein Wolf als problematisch erkannt – werden auf der Seite 21 Lösungsmaßnahmen vorgeschlagen, die ich hier einmal kürze und stichwortartig zusammenfasse:
• Einzelfallbetrachtung des Vorkommnisses durch Fachleute und Empfehlungen des weiteren Vorgehens durch diese Fachleute
• Fang, Vergrämung und Entfernung durch sogenannte „erfahrene Personen“
• Entfernung des Wolfes als „letztes Mittel der Wahl“
• Lückenlose und ausführliche Dokumentation des Vorfalls, um der Berichtspflicht gegenüber der Europäischen Kommission nachkommen zu können
• Evaluierung des Vorfalls zur Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Methoden.
Zusätzlich sind jederzeit polizeiliche Maßnahmen erlaubt, da die Sicherheit der Menschen immer an erster Stelle steht!
So oder so ähnlich klingen die bereits existierenden Wolfsmanagementpläne in Deutschland, wobei sich abschließend immer noch die Frage stellt, was eigentlich unnatürliches, also „auffälliges“ Wolfsverhalten eigentlich ist.
Was bedeutet „dreistes“ oder „dauerhaft unerwünschtes“ Verhalten bei Wölfen?
Das Wolfsverhalten beurteilen letztlich oben benannte Fachleute und „erfahrene Personen“. Woher allerdings die Erfahrung dieser Experten bei dem heutigen fast ausschließlichem Einsatz passiver Monitoringmethoden stammt, bleibt schleierhaft. Genau hier ist eine Ursache für die Verunsicherung der Bevölkerung auszumachen, die sich natürlich fragt, woher denn die Erfahrungen mit auffälligen Wölfen stammen sollen, wenn es bisher keine gibt? Ein Managementplan als solcher kann eigentlich nur den politisch mehrheitsfähigen Maßnahme- und Handlungsrahmen „abstecken“, er muss am Ende jedoch richtig interpretiert und umgesetzt werden. Und welches Wissen „zählt“ hierbei? Scheinbar in erster Linie das durch Forschungsarbeiten erworbene wissenschaftliche Know-how, auf das sich der Großteil der heutigen Monitoring- und Managementmethoden bezieht. Reicht das aus?
Hier habe ich so meine Zweifel, die ich mit einem Zitat des renommierten Wolfsforschers Kurt Kotrschal beschreiben möchte: Demnach „…kann man versuchen, sich ausschließlich auf so genanntes „gesichertes Wissen“, also die neueren Erkenntnisse der Wissenschaft, zu beziehen und wird auf diese Weise ein recht lückenhaftes Bild zeichnen. Oder man traut sich, auch Szenarien zu entwerfen, die auf einer Mischung aus gesichertem Wissen, Erfahrung, Anekdoten und über Jahrzehnte entwickeltem Bauchgefühl beruhen – das natürlich auch falsch sein kann.“ (Kotrschal: Wolf, Hund Mensch – Piper 2012). Das Zitat beantwortet die gestellte Frage deutlich: Nein, das Forschungswissen über den Wolf allein reicht nicht aus!
Zurück zur Ausgangsfrage: Welcher Maßstab kann nun also verwendet werden, wenn es darum geht, frühzeitig verhaltensauffällige Wölfe zu identifizieren?
Der renommierte kanadische und am Max-Planck-Institut für Verhaltensphysiologie unter Konrad-Lorenz forschende – jedoch in Wolfskreisen nicht unumstrittene – Ethologe Valerius Geist (bereits emeritiert) präsentiert in einem Artikel einige Vorschläge, ich nenne den wichtigsten Vorschlag mal die „Siebenstufige Geistsche Eskalationsspirale“, die er auf der Basis realer Wolfsangriffe in der Vergangenheit und eigener Erfahrungen in Wolfsgebieten entwickelte und die ich einmal – frei übersetzt – hier vorstellen möchte.
Geist geht davon aus, dass es sichere Anzeichen des Wolfsverhaltens gibt, die – lange bevor etwas passiert – Rückschlüsse darauf zulassen, dass es auch für Menschen gefährlich werden könnte. Diese Anzeichen gliedert er in 7 Stufen:
- Stufe 1: Im Wolfsterritorium wird die (leichte) Beute knapp, die Beutetiere selbst (Hirsche, Wildschweine und Rehe) nähern sich zum Schutz vor Wölfen Dörfern und Wohngebieten.
- Stufe 2: Wölfe beginnen, sich nachts ebenfalls den Dörfern, Vororten und Wohngebieten zu nähern. Die Hunde in den Dörfern bellen nachts häufiger, die Wölfe hört man sogar tagsüber heulen.
- Stufe 3: Wölfe werden nun auch tagsüber sichtbar. Sie erkunden die menschliche Umgebung aus einiger Distanz.
- Stufe 4: Kleinvieh und Hunde werden in der Nähe von Gebäuden sogar tagsüber attackiert, Menschen müssen ihre Hunde gegen Wölfe verteidigen (es ist nach derzeitigem deutschem Recht übrigens umstritten, ob das Verteidigen des eigenen Hundes überhaupt erlaubt ist). Die Attacken sind jedoch immer noch zögerlich.
- Stufe 5: Die Wölfe erkunden – immer noch unbeholfen – das Großvieh, was häufiger zu verletzen Ohren und Sprunggelenken bei diesen führt. Die ersten ernsthaften verletzten Viehbestände werden gefunden – auch in der Nähe von Häusern und Scheunen. Die Wölfe folgen Reitern beim Ausritt und Menschen bis in ihre Gärten.
- Stufe 6: Wölfe richten ihre Aufmerksamkeit auf Menschen, erkunden sie und es gibt erste zögerliche, fast spielerische Attacken. Außerdem verteidigen sie ihre Beute vor sich nähernden Menschen, z.B. durch knurren.
- Stufe 7: Wölfe attackieren – anfangs ebenfalls noch ungeschickt – Menschen.
Valerius Geist geht also davon aus, dass sich mit großer Genauigkeit die Bedingungen bestimmen lassen, unter denen Wölfe gefährlich werden können. Er fordert, dass diese Stufen allen Bewohnern in Wolfsgebieten bekannt sein müssen, damit jeder einzuschätzen lernt, ob vermeintlich gefährliche Umstände vorliegen. Aber machen Sie sich gerne selbst ein Bild. Das Dokument steht im Internet zum Download zur Verfügung.
Diese 7 Stufen wurden auch bereits in Deutschland von verschiedenen Autoren (z. B. Radinger und Fuhr) aufgegriffen. Ich habe dort allerdings folgende weiterführende Darstellung aus demselben Papier, in dem Valerius Geist zusätzlich 9 Bedingungen beschreibt, unter denen Wolfsattacken nahezu unvermeidbar sind, nicht gefunden (erneut frei von mir übersetzt):
• Wölfe sind zahlreich vorhanden
• Wölfe werden de facto oder de jure geschützt und erleben die Menschen nicht als Jäger
• Die Zahl der natürlichen Beutetiere geht in großer Anzahl und Vielfalt zurück
• Wölfe haben die Möglichkeit, sich regulär an reichen Futterquellen gütig zu tun, wie z.B. Abfallhaufen oder leicht zu jagende Alternativen zur natürlichen Beute, z.B. Haustiere und Nutzvieh
• Der Zugriff auf Nutzvieh ist für die Wölfe knapp und sie können nicht davon existieren
• „Experten“ informieren die Menschen, dass Wölfe harmlos seien und keine Gefahr darstellen
• Wölfe werden dazu ermutigt, menschliche Siedlungen aufzusuchen, sich Menschen zu nähern, um sie in Ruhe zu beobachten und davonzukommen, nachdem sie Haustiere und Vieh verstümmelt oder sogar getötet haben
• Wölfe werden nach einer Attacke nicht abgeschreckt oder nur zeitweise davon abgehalten, die Opfer werden kritisiert und das schlechte Verhalten der Wölfe wird allein auf „wissenschaftliche“ Art und Weise erklärt
• Menschen, die auf Wölfe treffen, rennen weg, schauen weg und wenden den Wölfen ihren Rücken zu, zeigen Furcht, körperliche Unsicherheit oder mangelnde Fitness.
Jeder mag nun seine eigenen Schlüsse aus den „ Geistschen Erkenntnissen“ ziehen, ich vertrete folgende Ansicht:
So lange wir in Deutschland keinen anderen anerkannten Maßstab für das vermeintlich gefährliche oder ungefährliche Wolfsverhalten haben, halte ich es für fahrlässig, diese Erkenntnisse im Wolfsmanagement nicht in die Betrachtungen einzubeziehen. Mit der „Siebenstufigen Geistschen Eskalationsspirale“ liegt bereits seit einiger Zeit ein Maßstab vor, der gewöhnliches vom gefährlichen Wolfsverhalten unterscheiden hilft. Man muss Valerius Geist weder mögen noch folgen, ignorieren sollte man seine Erkenntnisse allerdings nicht, so lange ihnen keine schlagkräftigeren und wissenschaftlich stichhaltigeren Argumente entgegenstehen.
Wolfsmonitor wird künftig auf dieser Seite versuchen, ausgewählte Einzelereignisse anhand der „Siebenstufigen Geistschen Eskalationsspirale“ (natürlich ohne jegliche Gewähr und ohne Haftungsansprüche) zu bewerten. Der Einfachheit halber verwende ich hierzu als Hilfsmittel eine herkömmliche Ampel, ich nenne sie einmal „Wolfsampel.“
Die Farbe „grün“ wird dabei vermutlich eher selten zur Verwendung kommen, die Stufen 1 bis 3 der „Geistschen Eskalationsspirale“ bedürfen eigentlich keines Kommentars. Eine Ausnahme könnte vorliegen, wenn beispielsweise einige Medien ein Ereignis falsch einordnen. Dann kann die grüne Ampel das Ereignis relativieren.
Die gelbe Ampel kommt zum Einsatz, wenn Ereignisse der Stufe 4 oder 5 der Eskalationsspirale zugeordnet werden. Es sollte dann von den Verantwortlichen vor Ort genauer hingesehen werden, was nichts anderes bedeutet, als das Monitoring zu intensivieren und durch aktive Elemente zu ergänzen (mehr dazu später an anderer Stelle). Es sollte bei den Stufen 4 und 5 von den Verantwortlichen auch darüber nachgedacht werden, Vergrämungsmaßnahmen proaktiv vorzunehmen.
Eine rote Ampel wird demnach zu sehen sein, wenn mindestens die Stufe 6 der Eskalationsspirale erreicht wird. Hier besteht aus Sicht von Wolfsmonitor möglicherweise „Gefahr im Verzug“.
Die flächendeckende Anwendung eines solchen Ampelsystems dürfte eine Bejagung der Wölfe und die Diskussion darüber vorerst überflüssig machen, da eine Konzentration der vorbeugenden Maßnahmen auf verhaltensauffällige Wölfe möglich ist. Das System dient also letztendlich dem Schutz aller unauffälligen Wölfe und beugt der allgemeinen Verunsicherung der Bevölkerung durch Transparenz vor. Es fragt sich folglich, wer die Experten sein können, die proaktive Maßnahmen gegen „renitente Wölfe“ umsetzen können. Ich werde später bei der Erörterung der 4. These näher darauf eingehen, es sind die „Wolfsscouts“.
Betrachten Sie die Idee einer „Wolfsampel“ als Diskussionsvorschlag, den ich hier auf Wolfsmonitor von Zeit zur Zeit aufgreifen werde.
Hier geht es zur These 2!