Ganz oben auf dem Speiseplan der Wölfe stehen Huftiere, um es genauer zu sagen: Paarhufer. Pferde sind zwar Huftiere, aber keine Paarhufer. Und nun? Die Frage, die viele Pferdehalter und Reiter seit der natürlichen Verbreitung des Wolfes umtreibt, ist die Frage nach der Sicherheit ihrer grasfressenden Vierbeiner.
Sind artgerecht auf der Weide und im Offenstall gehaltene Pferde in Gefahr, wenn Isegrim der Magen knurrt? Oder schlummern in unseren Pferden noch die Gene ihrer Urpferde, die an die Nachbarschaft mit dem Wolf gewöhnt waren? Können sich Reiter nicht mehr in den Wald trauen, weil sie, wie Rotkäppchen, vom „bösen Wolf“ überrascht werden könnten?
Solche Mythen und Märchen finden stets Einzug in Diskussionen um die Wolfsrückkehr, um Informationslücken und Halbwissen „aufzufüllen“. Die Unsicherheits- und Angstspirale lässt sich leider leicht in Gang setzen.
Wie schätzen Fachleute die Situation tatsächlich ein? Die Aussagen sind eindeutig: Für Pferde besteht ein sehr geringes Risiko, von Wölfen angegriffen zu werden. Der Wald bietet eine üppige Schalenwilddichte (Rehe, Hirsche, Wildschweine) und Pferde sind keine wehrlosen Opfer, sondern durchaus überzeugend wehrhaft. Gänzlich auszuschließen ist das Risiko jedoch nicht. Ergo: Grund zur Vorsicht – ja. Grund zur Panik – nein.
Wie schon gesagt: Pferde sind, im Gegensatz zu Schafen und Ziegen, wegen ihrer Wehrhaftigkeit keine leichte Beute. Sie verfügen aufgrund ihres originär geteilten Lebensraumes mit Wölfen über ausgeprägte Flucht- und Abwehrinstinkte, die sie für den großen Beutegreifer zu einer kräftezehrenden und gefährlichen Angelegenheit machen. Mit gezielten Tritten können Pferde ihre Hufe gegen Angreifer schmerzhaft bis tödlich einsetzen.
In Wolfsgebieten empfiehlt es sich jedoch, fohlende Stuten aus zwei Gründen in Stallnähe zu halten: Zum einen lockt der Geruch der Nachgeburt neben Wölfen noch weitere Beutegreifer an. Vor allem Fohlen unter drei Monaten sind am ehesten gefährdet. Zum anderen kann bei Geburtskomplikationen helfend eingriffen werden. Grundsätzlich bietet der Herdenverband Pferden den besten natürlichen Schutz, vor allem wenn Stuten ihre älteren Fohlen bei Fuß haben. Doch auch hier sind Pauschalaussagen nicht angebracht: Jedes Pferd reagiert auf Gefahrensituationen individuell entsprechend seines Temperamentes und seiner Sozialisation.
Vielen Pferdebesitzern stellt sich die Frage, ob Pferde die bloße Anwesenheit von Wölfen schon als Gefahr wahrnehmen?
Mehreren Reiterberichten aus der Lausitz zufolge, wo der Wolf schon seit mehr als 15 Jahren wieder heimisch ist, reagierten ihre Pferde im Gelände beim Anblick des Wolfes höchstens mäßig interessiert, aber keinesfalls panisch. Die Wölfe nahmen in den verschiedenen Begegnungen mit Pferden und Reitern kaum Notiz von ihnen und zogen sich gelassen zurück.
Falls der Wolf doch mal in der Nähe bleibt, besteht kein Grund zur Sorge. Besonders junge Wölfe sind neugierig. Es ist für sie nicht atypisch, nicht gleich die Flucht zu ergreifen, sondern die plötzliche Begegnung mit Mensch (und Pferd) zu beäugen. Auch wenn Wölfe als scheu gelten, gibt es in ihrer Spezies genauso unterschiedliche Charaktere wie bei anderen Lebewesen: zurückhaltende oder neugierige, ängstliche oder selbstbewusste, um nur einige wenige zu nennen.
Aha, Begegnungen zwischen Reitern und Wölfen hat es schon mehrfach gegeben – und keinem Zweibeiner kam die Rotkäppchen-Rolle zu. Also kein Grund zur Sorge.
Doch was tun, wenn Pferd-Reiter-Paar auf Isegrim trifft – auch danach wird immer wieder gefragt. Dazu gibt es viele Ratschläge. Sie klingen alle mehr oder weniger gleich, was sicherlich seinen Grund haben wird. Ich fasse diese gerne gleich einmal zusammen.
Vorweg möchte ich eines anmerken, was m. E. bei diesen „Ratgebern“ oft etwas kurz kommt: Wir sind „Gast“ in Wald und Wiese und sollten uns auch so verhalten. Umsichtig und respektvoll. Hunde sollten deshalb nicht durchs Unterholz stöbern und die Wildtiere in ihren letzten Rückzugsorten stören, von denen es ohnehin wenige gibt. Ist ein Wolf in der Nähe, ist der Hund anzuleinen. Jeder Reiter weiß: Pferde reagieren auf ihr Umfeld; sie reagieren vor allem stark auf das Verhalten ihres Reiters. Ist der nervös, wird sich das sehr wahrscheinlich auf das Pferd übertragen. Ob mit oder ohne Wolf.
Nun zu den Verhaltensempfehlungen:
- – Reiten Sie nicht schnell weg, um den Jagdinstinkt des Wolfes nicht zu wecken.
- – Reiten Sie ruhig weiter und behalten Sie den Wolf im Auge, falls er sich nicht sowieso zurückzieht.
- – Eigentlich selbstverständlich, aber dennoch: Versuchen Sie niemals, Wölfe zu füttern! Sie können Menschen sonst schnell mit Futter assoziieren – eine Situation, die für den Menschen gefährlich werden kann – und für den Wolf später tödlich.
- – Melden Sie Ihre Wolfsbegegnung einem der für Ihr Bundesland zuständigen Wolfsberater. Ihre Beobachtungen können für das Monitoring von Bedeutung sein.
Eines noch: Begegnungen zwischen Mensch und Wolf sind vor allem für einen gefährlich: den Wolf, wie man bedauerlicherweise am Fall MT6 bzw. „Kurti“ mit ansehen musste. Sollten Sie also eine dieser seltenen Situationen erleben und einem Wolf begegnen, werden Sie unangenehm (so unangenehm, wie es Ihr Pferd aushält). Schreien Sie, werfen Sie Stöcke und führen Sie sich auf „wie verrückt“. Der Wolf gewöhnt sich zwangsläufig in unserer dicht besiedelten Kulturlandschaft an Menschen, doch er tut gut daran, sich von ihnen fernzuhalten. Nicht, weil die Sicherheit des Menschen gefährdet ist, sondern weil Wölfen, die sich den Menschen nähern, nichts Gutes blüht. Es gilt weitere letale Entnahmen, legitimierte Abschüsse sind zu verhindern.
In anderen europäischen Ländern mit Wolfsvorkommen wie beispielsweise Rumänien und Portugal sind Begegnungen für Mensch und Wolf seit jeher nahezu alltäglich. Auch wir können uns daran gewöhnen, dass Wölfe, ähnlich wie andere Wildtiere wie Rehe oder Füchse, während ihrer Wanderungen unsere Ortschaften tangieren.
Denn eine vom Wolf ausgehende Gefahr für den Menschen ist sogar wissenschaftlich als äußerst gering einzustufen. Das belegt eine international angelegte, sehr umfangreiche Studie des Norwegischen Institutes für Naturforschung (NINA) aus dem Jahr 2002. Daraus geht hervor, dass es in den vergangenen 60 Jahren zu neun tödlichen Angriffen von Wölfen auf Menschen in Europa kam. Bei fünf Fällen handelte es sich um mit Tollwut infizierte Wölfe, die anderen vier Vorfälle haben sich mit futterkonditionierten, das heißt vom Menschen angefütterten Wölfen ereignet.
Zweifelsfrei ist der Aussage „Das sind neun Angriffe zu viel.“ nicht zu widersprechen, doch kann man an dieser Stelle die eigene Wahrnehmung und Beurteilung von Risiko hinterfragen. Denn auch jedes Verkehrsopfer auf unseren Straßen, jeder tödliche Reit- und Haushaltsunfall ist einer zu viel… Aber wir fahren durchaus weiterhin Auto, reiten (idealerweise) mit glücklicher Unbefangenheit und putzen nach wie vor Fenster. Die „Gefahren“ im Wald gehen eher von Zecken oder herabfallenden Ästen aus.
Tiere sind nicht berechenbar; das gilt selbstverständlich auch für unsere domestizierten Pferde!
Genauso wenig berechenbar sind die Risiken, denen wir unsere Pferde – bewusst oder unbewusst – aussetzen, wenn wir sie beispielsweise verladen und mit dem Pferdeanhänger zum Turnier fahren. Im Vergleich zum Wolf geht von hetzenden Hunden und Menschen, die den Pferden absichtlich Schaden zufügen, ein deutlich höheres Risiko aus. Auch Menschen ohne straffähige, tierquälende Absichten können Pferden durch eine unsachgemäße Haltung oder Reitweise aufgrund von Unwissenheit oder Gedankenlosigkeit erheblichen psychischen wie physischen Schaden zufügen.
Wenn wir uns diese „Alltagsrisiken“ vor Augen führen, relativiert sich die Gefahr durch den Wolf recht schnell. Was nicht heißen soll, dass man ihn als Wildtier mit scharfen Zähnen verharmlosen darf. Der Wolf ist und bleibt ein Beutegreifer, instinkt- und überlebensorientiert. Ohne böse Absichten, aber auch ohne Rücksicht auf menschliche Befindlichkeiten.
Doch bei der Wolfsdiskussion geht es immer wieder um menschliche Befindlichkeiten.
Der Mensch hat es sich zu Eigen gemacht, alles zu kontrollieren, zu regulieren und nach eigenem Ermessen in bestehende Systeme und Abläufe (auch in der Natur) einzugreifen. Oft genug mit langfristig verheerenden Folgen. Grundsätzlich kann man die Frage stellen, woher wir das Recht nehmen, über Entwicklungen in der Natur zu entscheiden und diese gegebenenfalls zu beeinflussen oder gar zu unterbinden.
Rein gesellschaftliche und wirtschaftliche Interessen reichen ethisch gesehen für solch schwerwiegende Entscheidungen nicht aus. Die Tatsache, dass der Mensch sich für die intellektuell überlegene Spezies hält, könnte zu der Erwartungshaltung führen, dass weitsichtigere Lösungen gefunden werden sollten als „Was nicht passt, wird passend gemacht“ oder „Was unbequem ist, wird beseitigt“.
Das gilt auch bei der Rückkehr des Wolfes. Der Wolf ist ein Beutegreifer und stellt somit per se vor allem für die Nutztierhalter eine konfliktträchtige Tierart dar. Hier müssen Lösungen erarbeitet werden und wie so oft, scheint guter Rat teuer zu sein. Diesem naturgegebenen Konfliktpotenzial könnte (mal wieder) begegnet werden, indem die Natur reguliert wird.
Eine andere Möglichkeit wäre, auf gesellschaftlicher Seite Anpassungen, aber damit eben auch Umstände in Kauf zu nehmen. Dennoch im Interesse aller Beteiligten. Lösungen für diese vielschichtige Problematik lassen sich sicherlich nicht aus dem Ärmel schütteln. Da ist der „überlegene“, menschliche Intellekt gefragt. Doch die Bereitschaft zum Umdenken und neuen Handeln ist ein erster Schritt zur Akzeptanz im Sinne einer Koexistenz. Diese grundsätzliche Einstellung stünde dem Menschen nicht nur hinsichtlich der Wolfsthematik gut zu Gesicht.
Aber gerade hier scheint ein auf Erkenntnissen und Erfahrungen basierender Konsens wohl noch in weiter Ferne zu liegen. Derzeit kann nur ein Status quo konstatiert werden. Die weitere Entwicklung, sowohl die der Wolfspopulation als auch die der gesellschaftlichen Akzeptanz, ist kaum vorhersehbar. Sozusagen ein Schwebezustand. Wenig zufriedenstellend, aber Fakt.
Vorerst gilt es, einen konfliktreduzierenden Umgang mit dem gar nicht mehr so neuen Nachbarn Wolf zu erlernen. Hierzu dienen am ehesten Information, Sachlichkeit und unvoreingenommene Beobachtung der sich entwickelnden Situation. So wird Schritt für Schritt adäquates, vielleicht sogar perspektivisches Handeln möglich. Überschäumende Emotionen, sowohl pro als auch contra Wolf, sind nicht hilfreich, um dieser Herausforderung gerecht zu werden.
Unsere Beurteilung sollte zudem stets vor dem ethischen Hintergrund unserer Verantwortung den Tieren gegenüber stattfinden, deren (Über-) Leben wir durch unser Eingreifen in das natürliche Gleichgewicht maßgeblich beeinflussen.
Mit dem Ziel einer funktionierenden Koexistenz von Mensch, Pferd und Wolf.
Wiebke Wendorff
Wolfsmonitor-Kolumnistin Wiebke Wendorff ist freiberufliche PR-Beraterin und studierte Sprach- und Medienwissenschaftlerin (M.A.). Die Arbeit mit dem geschriebenen Wort gehört zu ihren Leidenschaften. Informationen vermitteln, Wissenswertes begreifbar machen und erfolgreich kommunizieren – diese Intentionen hat sie sich auf ihre Centauri-Kommunikation-Flagge geschrieben (hier der Link zur Centauri-Webseite!). Ihre Jahrzehnte währende Liebe für das wunderbare Geschöpf Pferd und ihr vitales Interesse an dem faszinierenden Wildtier Wolf riefen in ihr einen Wunsch hervor: Zwischen den scheinbar unvereinbaren Welten dieser beiden Tierarten und ihren menschlichen Anhängern zu vermitteln. Im evipo-Verlag erschien im Sommer 2015 ihre ethisch motivierte Broschüre „Pferd und Wolf – Alte Bekannte oder neue Gefahr? (Weitere Informationen zu dieser Broschüre erhalten Sie nach einem „Klick“ auf das nachfolgende Broschürenfoto!)