Wenn jemand auf die Frage, warum wir eigentlich Wölfe in Deutschland „brauchen“, keine spontane Antwort erhält, dann mag das vielleicht auch an der Frage liegen. Denn höchstwahrscheinlich ist sie falsch gestellt! Daraus allerdings vorschnell ableiten zu wollen, es gäbe keinen „vernünftigen Grund“ für die Anwesenheit der Wölfe, lässt mich manchmal arg an der Vernunft des „Abzuleitenden“ zweifeln.
Und das nicht allein wegen der „trophischen Kaskadeneffekte“ in unserer Kulturlandschaft, die es mit der Wolfsrückkehr zu erforschen gilt, oder wegen der zurzeit gültigen nationalen und internationalen Artenschutzbestimmungen, sondern weil meiner Ansicht nach nur „umgekehrt“ ein „Schuh daraus“ wird.
Laut §1 des Tierschutzgesetzes darf nämlich „niemand einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen“.
Deshalb müsste die obige Frage richtigerweise eigentlich lauten: Welchen vernünftigen Grund können wir eigentlich anführen, um Wölfen quasi legal Schmerzen, Leiden oder Schäden zuzufügen oder um sie sogar gleich „in ganzen Kontingenten zu entnehmen“ (also zu bejagen)?
Mal abgesehen von einigen Problemen hier und da im Herdenschutz, eine wirklich tragfähige Entscheidung gegen weitere Wölfe in Deutschland dürfte – bevor alle geeigneten Lebensräume überhaupt von Wölfen besiedelt worden sind – folglich nur schwer vernünftig zu begründen sein. Und das gilt für die proaktive „Regulierung“ ebenso wie für die angebliche „Kontrolle“ des Wolfsbestandes. Mit Ausnahme echter „Problemwölfe“ natürlich, aus nachvollziehbaren Gründen der öffentlichen Sicherheit.
Eine Legaldefinition des Begriffs „vernünftiger Grund“ gibt es zwar bisher nicht. Die Kommentatoren des Tierschutzgesetzes gehen allerdings „übereinstimmend davon aus, dass die „Sicht der Allgemeinheit“ (von Loeper 2002) (2), genauer gesagt deren „mehrheitliche Wert- und Gerechtigkeitsvorstellungen“ bzw. „vorherrschende sozialethische Überzeugungen“ (Hirt et al 2003a) (3) oder „der Standpunkt des gebildeten, für den Gedanken des Tierschutzes aufgeschlossenen und einem ethischen Fortschritt zugänglichen Deutschen“ (Lorz 1992) (4) zu Grunde zu legen ist….“. (1)
Somit müsste offenbar erst einmal von denen, die dem Wolf an den Pelz wollen, klar gesagt werden, was am damit verbundenen Blutzoll in heutiger Zeit tatsächlich „gebildet, dem Tierschutzgedanken aufgeschlossen und ethisch fortschrittlich“ sein soll.
(Vor meinem geistigen Auge sehe ich bereits die Antworten beispielsweise eines Richard David Precht oder eines Peter Wohlleben auf diese Frage.)
Nicht umsonst kommt an dieser Stelle von den gegen Wölfe wetternden Interessensgruppen bisher nahezu nichts. Mit Ausnahme des wenig schlüssigen Hinweises, dass die Wolfsregulierung aus deren Sicht ebenfalls einer (Nutz-)Tierschutzmaßnahme gleichkommen könnte.
Das aber stimmt allein deshalb schon nicht, weil Nutztiere einen verantwortlichen Eigentümer haben und in der Regel auch angemessen von diesem geschützt werden können (und müssen).
Möglicherweise versuchen einige mit dem Argument aber auch, sich den Investitionskosten für adäquate Schutzmaßnahmen entziehen zu können. Das wird jedoch vermutlich nichts!
Eine weitere Schlussfolgerung: Klingt es vor den dargestellten Hintergründen für einen gebildeten und den Gedanken des Tierschutzes aufgeschlossenen sowie ethisch fortschrittlichen Mitbürger nicht sogar logisch, den Luchs aus dem deutschen Jagdrecht „zu entlassen“ und für die drei großen heimischen Beutegreifer Wolf, Luchs und Bär eine eigene spezifische und tierschutzgerechte Betrachtungsweise zu entwickeln?
So, wie es die Large Carnivore Initiative for Europe (LCIE, hier der Link!) bereits seit Jahren praktiziert…?
Herzlichst
Ihr
Jürgen Vogler
Quellen:
(*1) Heinrich Bottermann: „Tierschutz beim Schlachten – Der vernünftige Grund im Spannungsfeld der aktuellen Rechtslage“, Landesamt für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz NRW, Recklinghausen 2008, hier der Link!
(*2) Hirt A, Maisack C, Moritz J (2003a): Tierschutzgesetz / Kommentar. Kommentar zu § 17 (Rn 25-27 u. 41). München: Vahlen.
(*3) von Loeper E (2002): Kommentar zu § 1 (Rn 52). In: Kluge, HG (Hrsg.): Tierschutzgesetz / Kommentar. Stuttgart: Kohlhammer.
(*4) Lorz A (1992): Tierschutzgesetz / Kommentar. Vierte, neu bearbeitete und ergänzte Auflage. Kommentar zu Anh. §§ 17, 18 (Rn 27). München: Beck.