„Was sagt nun die Praxis über die Gefährlichkeit des Wolfs gegenüber dem Menschen? Wird die potentielle Aggression einzelner Wölfe gegenüber dem Menschen realisiert? Daß tollwütige Wölfe wie auch andere tollwütige Füchse, Hunde usw. bei Kontakt mit dem Menschen eine Gefahr darstellen, ist unbestritten. Aber wie ist es nun mit gesunden Wölfen, greifen sie Menschen an?
Diese Frage hat in jüngster Vergangenheit Pavlov (1962, 1982) behandelt, der in diesem Zusammenhang die Diskussion bekannter Jagdwissenschaftler über die Gefährlichkeit des Wolfs für den Menschen aus den 30er Jahren darstellt. Der große Wolfskenner Kaverznev (1933) schrieb: „Ich muss sagen, daß vor der Revolution in jedem Winter in den Zeitungen über Angriffe auf Menschen und Tötungen von Menschen durch Wölfe berichtet wurde. Die Opfer der Räuber waren nicht nur vorwiegend, sondern fast ausschließlich Landpolizisten und Wachtmeister. Man bekommt den Eindruck, als würden Wölfe Polizistenfleisch allem anderen vorziehen. Alle diese Nachrichten hielten in keinem Falle einer Überprüfung stand…“ Weiter heißt es: „…Derartige Zeitungsnachrichten und nicht überprüfte Gerüchte bildeten dann oft die Grundlage für die vorrevolutionären Statistiken, die von Polizeiwachtmeistern und Gemeindeschreibern „fabriziert“ wurden. Die Zahlen über durch Wölfe getötete Menschen wurden somit offenbar aus der Luft gegriffen.“
Pavlov (1982) weist weiter darauf hin, daß „eine negative Einstellung zu den Zahlen, die in der Vorkriegsstatistik die durch Wölfe getöteten Menschen ausweisen, auch die alten Jagdwissenschaftler gehabt hätten“ – Buturlin, Kercelli, Cerkasov, Kuznecov, Dinnik, Kaverznev (1933) erwähnt noch den „bekannten Anthropologen und Polarforscher Williamore Stephanson (Kananda)“, der „die Fälle untersucht hat, in denen sowohl in der UdSSR als auch in anderen Ländern Menschen durch Wölfe getötet worden sein sollen, und nirgends einen bewiesenen Fall gefunden hat“. Daß die nordamerikanischen Wölfe für den Menschen ungefährlich sind, wurde in jüngster Zeit von den bekannten Zoologen Pimlott (1967) und Mech (1970) dargestellt.
In den Nachkriegsjahren hat der führende sowjetische Jagdwissenschaftler Prof. Mantejfel aus gleichem Grund alles für Erfindung gehalten, was Angriffe von Wölfen auf den Menschen betrifft. Er war überzeugt, daß die jahrhundertelange Verfolgung beim Wolf eine allmächtige Furcht vor dem Menschen erzeugt hat, einen Instinkt, der es nicht zuließ, Menschen anzugreifen.
Auf dem 2. Kongreß der Jäger der RSFSR 1962 hat der bekannte Zoologe Teplov nochmals Arbeiten Buturlins besonders hervorgehoben, der in glänzender Weise nachgewiesen hat, daß Wölfe Menschen nicht angreifen (Pavlov 1982). Vor diesem Hintergrund veröffentlichte Pavlov 1965 in naturalistischer Weise eine Auswahl von Fällen, wo Wölfe in einigen Kreisen des Bez. Kirow (Wjatka) in den Kriegs- und Nachkriegsjahren (1944-1953) Menschen angegriffen haben. Überfälle auf Menschen wurden 1945-1947 auch im Bez. Wladimir und in Karelien registriert. Mir scheint jedoch, daß die von Pavlov (1982) angeführten Fälle aus der Nachkriegszeit sich im Rahmen größter Ausnahmen bewegen (Naumov 1967) und kein Anlaß sind, die Frage der Gefährlichkeit des Wolfs für den Menschen neu zu stellen.
Fassen wir also zusammen. Angriffe auf Menschen können erfolgen in Zeiten, wenn die Nahrung verknappt ist, der Bestand hoch und die Bekämpfungsmaßnahmen nachlassen. Letzteres ist sehr wichtig, denn bei einzelnen Tieren verliert sich allmählich die Furcht vor dem Menschen, die instinktmäßige Angst, die die aggressiven Anlagen hemmt. Es ist kein Zufall, daß den Angriffen von Wölfen auf Menschen, die Pavlov mit so grausamer Ausführlichkeit schildert, die Kriegsjahre vorausgingen, als in den Dörfern nur Frauen und Kinder zurückgeblieben waren. Es ist ebenfalls kein Zufall, dass einzelne dreist gewordene Wölfe fast ausschließlich kleinere, vom Hunger geschwächte Kinder anzugreifen wagten. Bemerkenswert ist schließlich auch, daß die erlegten und untersuchten menschenfressenden Wölfe entweder alte Tiere waren oder solche, die Zähne verloren hatten, als sie sich aus Schlagfallen befreiten.
Die Gefahr eines Angriffs durch Wölfe ist also gering und setzt außergewöhnliche Umstände voraus. Aber die Gefahr muß man immer im Auge haben und bei der Strategie einer Lenkung der Wolfspopulation berücksichtigen, und man darf mit der Bestandskontrolle nicht nachlassen. Emotional beeinflußte Äußerungen wie die von Pavlov (1982), die die Situation dramatisieren, sind einer weiteren Entwicklung dagegen kaum dienlich. Schließlich stehen auch Bär und Tiger, die Vieh töten und manchmal Menschen angreifen, nicht außerhalb des Gesetzes.“
(Quelle: Prof. Dr. Dmitrij I. Bibikow (verstorben), Zoologieprofessor an der Akademie der Wissenschaften zu Moskau; international bekannter Säugetierexperte und Wolf-Spezialist. Zitiert aus seinem Buch „Der Wolf“, S. 109 f., erschienen in: Die neue Brehm-Bücherei, Nr. 587 , A. Ziemsen Verlag – Wittenberg Lutherstadt 1988, übersetzt von Günther Grempe, Rostock)