…“Bei der Jagd verläßt sich ein Wolf zuerst auf seine Nase, dann auf seine Pfoten und zum Schluß auf seine vier Zentimeter langen Zähne. Ausgestattet mit einem hervorragenden Geruchsinn, der ebenso gut oder noch besser ist als der eines Hundes, kann er selbst auf zweieinhalb Kilometer Entfernung noch die Witterung eines Rehs, Seehundes oder Karibus aufnehmen. Sobald Aussicht auf Beute besteht, versammeln sich die Rudelmitglieder und prüfen den Wind, wedeln aufgeregt mit dem Schwänzen und spitzen die Ohren, während sie auf das Signal warten, dass die Jagd beginnen kann.
Das Rudel wird meist vom dominaten Alpha-Männchen angeführt und bildet eine disziplinierte Jagdmeute. Ein Wolf nach dem anderen trabt auf genau festgelegten Pfaden dem Führer hinterher, während dieser der Witterung folgt. Der Jagderfolg eines Wolfsrudels wird meist völlig überschätzt. In Wirklichkeit gehen die „gnadenlosen Killer“ in 90 Prozent aller Fälle leer aus. Rehe ergreifen sofort die Flucht, Hirsche machen sich entweder davon oder bleiben stehen und nehmen den Kampf auf, wobei sie ihren Angreifern manchmal durchaus tödliche Wunden zufügen, Moschusochsen formen einen schützenden Kreis aus drohend gesenkten Hörnern und scharfen Hufen um ihre Kälber.
In dieser Situation beginnt das Rudel oft, die Beute zu provozieren und zu testen. Es täuscht einen Angriff vor, zieht sich jedoch kurz darauf wieder zurück, um die Reaktion der Beutetiere zu beobachten. Wenn die ganze Herde oder einzelne Tiere fliehen, verfolgt sie das Rudel und versucht, seine Erfolgchancen abzuschätzen. Ein verletzter Hirsch, ein Moschusochsenkalb oder ein alter, durch Krankheit geschwächter Elch bergen das geringste Risiko und stellen die leichteste Beute dar. Ein Wolfsrudel kann seine Opfer mehrere Stunden und Tage lang verfolgen. Dabei legt es sehr weite Strecken zurück, während es geduldig auf den richtigen Moment oder das geeignete Terrain wartet. Auf diese Weise betreibt das Rudel eine Auslese im darwinistischen Sinn, indem es dafür sorgt, dass nur die schnellsten und stärksten Tiere überleben und sich fortpflanzen. Das meinte auch der amerikanische Dichter Robinson Jeffers, als er schrieb: „Nur des Wolfes Zahn formt so fein / der flinken Antilope Bein.“…“.
(Daniel Wood, preisgekrönter amerikanischer Schriftsteller, zitiert aus seinem Buch: „Wölfe“, deutsche Ausgabe 1997, Könemann Verlagsgesellschaft, Köln, Seite 71 f., hier werden Sie zu weiteren Informationen zum Buch verlinkt!)