Tanja Askani, international anerkannte Wolfsexpertin und durch die Medien und ihre zahlreichen Vorträge bekannt, betreut mehrere Wolfsrudel im Wildpark Lüneburger Heide. Sie befasst sich bereits seit frühester Kindheit mit Wildtieren, pflegte als Falknerin verletzte Greifvögel und legte 1998 mit der von ihr aufgezogenen Wölfin „Flocke“ den Grundstein für ihr erstes Wolfsrudel.
Im Vorwort ihres lesenswerten Buches „Wolfsspuren – Die Frau, die mit den Wölfen lebt“* stellt Rosemarie Kirschmann fest: „Wir lernen durch sie, dass Aggression wie Liebe, Fürsorglichkeit und Zärtlichkeit Teil des natürlichen Verhaltensspektrums des Wolfes ist, dem wir nicht gerecht werden, wenn wir dem Tier Maßstäbe aus der menschlichen Ethik überstülpen. Beides, Romantisierung und Dämonisierung des Wolfes, sind aus menschlichem Wunschdenken heraus entstanden, sie versperren die Sicht auf die Wirklichkeit und verhindern echtes Verständnis. Tanja Askani lehrt uns, die Tiere mit ihrem Verhalten so anzunehmen, wie sie sind, frei von moralischen Urteilen und romantischen Vorurteilen.“
Wolfsmonitor hatte nun Gelegenheit zu einem Interview:
WOLFSMONITOR: Frau Askani, zurzeit liest oder hört man in den deutschen Medien vermehrt von „verhaltensauffälligen Wölfen“ oder „Problemwölfen“. Was ist Ihre Meinung dazu?
Wir müssen noch viel lernen! Denn alles, was wie der Wolf länger als eine Generation nicht präsent war, verlernen wir. Der Wolf ist ein wunderschönes Wildtier, das Platz in unserer Natur hat und schon lange vor uns Menschen hier war. Wir lebten tausende von Jahren mit den Wölfen zusammen und er war nur 150 Jahre nicht da. 150 Jahre sind ein Bruchteil von Sekunden in der Menschheitsgeschichte. Die Menschen müssen sich erst wieder daran gewöhnen, mit großen Raubtieren zusammen zu leben. Schauen wir zum Beispiel in die Lausitz. Dort gibt es kaum noch Probleme. In Niedersachsen allerdings hat man sehr empfindlich reagiert. Gerade in diesem Jahr hat sich dort die Situation so richtig hochgeschaukelt. Einige Medien haben die Menschen dort sogar dazu ermuntert, Wölfe zu verfolgen, zu fotografieren und zu filmen. Dabei hat man den Tieren teilweise den Fluchtweg abgeschnitten.
Wolfssichtungen gibt es überwiegend im Frühjahr, wenn die aus den Rudeln abwandernden Jungwölfe sich einen neuen Lebensraum suchen. Sie sind dann halt neugierig, teilweise übermütig. Wie Jugendliche, die in der Stadt randalieren. In Regionen, in denen es immer Wölfe gab, gibt es keine Probleme oder „Problemwölfe“. In den letzten 20 Jahren wurde auch in Deutschland niemand von Wölfen bedroht, verletzt oder getötet. Besonders in diesem Jahr kamen viele besorgte und von den Medien verunsicherte Menschen zu mir in den Wildpark. Ich kann sie zwar nicht alle beruhigen, aber hoffe, einen Teil dazu beitragen zu können, die Situation mit den Wölfen etwas entspannter zu sehen.
WOLFSMONITOR: Stellt Ihrer Meinung nach die Annäherung von Wölfen an Autos und Gebäuden eine grundsätzliche Gefahr dar?
Nein, die Wölfe sind in der Regel nur neugierig und erkennen das nicht als Gefahr. Und man sollte auch nicht sofort auf sie schießen. Wir tun das auch nicht bei anderen Tieren, die eine gewisse Distanz unterschreiten, wie zum Beispiel Füchse, Waschbären oder Pflanzenfresser. Was bringt uns ein toter Wolf? Er kann seine Erfahrung nicht mehr weitergeben. Ihn zu erschrecken oder zu vergrämen wäre sinnvoll. In früheren Zeiten hat man auch einfach eine Mistgabel nach ihm geworfen, wenn er zu nahe kam. In den über 20 Jahren meiner Arbeit konnte ich feststellen, dass Wölfe über ein Elefantengedächtnis verfügen. Haben sie eine Erfahrung gemacht, selbst im Welpenalter, vergessen sie diese nie wieder. Das ist wirklich erstaunlich. Erwachsene Wölfe werden ihre Nachkommen dann so erziehen, dass sie Menschen meiden. Dazu ein Beispiel: Einer meiner Wölfe musste zum Tierarzt, alle anderen waren bis dahin völlig entspannt. Und obwohl die anderen Wölfe keinerlei dementsprechende Erfahrungen hatten, waren sie drei Tage später dem Tierarzt gegenüber alle ängstlich. Ich hatte also plötzlich fünf panische Wölfe.
Einen Wolf zu erschießen ist keine Lösung, weil dadurch die Sozialstrukturen der Tiere durchbrochen werden. Dadurch erreicht man genau das Gegenteil. Raubtiere werden nämlich nicht durch persönliche Feinde reguliert, sondern durch die Beutetiere. Das heißt, wenn genug Nahrung da ist, steigt die Population, ist weniger Nahrung verfügbar, geht die Geburtenrate der Wölfe zurück. In Gebieten, wo überhaupt nicht auf Wölfe geschossen wird, gibt es keine Überpopulation an Wölfen. Es ist also sinnlos, Wölfe mit der Schusswaffe regulieren zu wollen. Langjährige Studien in den USA haben gezeigt, dass bei erschossenen Wölfen die Nutztierrisse sogar stiegen.
WOLFSMONITOR: Ab wann kann man denn von einer Gefährdung von Menschen ausgehen?
Eine Situation kann brenzlig werden, wenn die Tiere dem Menschen zu nahe kommen. In dieser Situation ist das menschliche Verhalten wichtig. Man muss dem Wolf deutlich machen, dass er nicht erwünscht ist. Ich würde mich nicht umdrehen und keine „Haken schlagen“, das wäre sicherlich kontraproduktiv. Ich würde mich so verhalten, wie gegenüber jedem anderen Wildtier auch. Einschätzen, ob der Wolf mich überhaupt bemerkt hat, auf mich aufmerksam machen und dann selbstbewusst, dominant und bestimmt auftreten. Kein Raubtier der Welt kann es sich erlauben, verletzt zu werden, weil dadurch seine Existenz gefährdet ist. Gewöhnlich wird der Wolf versuchen, einem Konflikt aus dem Weg zu gehen. Es gibt Filmaufnahmen von einem Wolf, der versucht, zwei Lämmer zu erbeuten. Ein einziges selbstbewusstes Mutterschaf hat ihn vertrieben.
Man kann allerdings auch andersherum fragen: Wie viele Menschenleben rettet eigentlich der Wolf? Wölfe verschwanden seinerzeit nicht nur angesichts der Verfolgung, sondern auch, weil wir in Deutschland kaum noch intakte Wälder hatten. Und diese waren leer geschossen. Jetzt haben wir wieder Wälder und die sind voll mit Wildtieren. So voll, dass die Tiere von dort aus in die Kulturlandschaft ausweichen. Deshalb haben wir täglich in Deutschland 350 bis 400 Wildunfälle. Jeden Tag! Und dabei kommt es nicht nur zu Sachschäden. Da kommen Menschen ums Leben oder tragen folgenschwere Verletzungen davon. Deshalb halte ich die Frage für berechtigt: Wie viele Menschenleben rettet ein Wolf, wenn er die Überpopulation an Wildschweinen, Hirschen und Rehen in Schach hält?
Frau Askani, vielen Dank für das Interview!
Anmerkungen:
1. *Leseempfehlung: Tanja Askani: „Wolfsspuren – Die Frau, die mit den Wölfen lebt“, AT Verlag, Baden und München, 4. Auflage 2012, ISBN 978-3-85502-979-2, (hier ein Link zur Vorstellung des Buchs bei Amazon)
2. Weitere Informationen zu Tanja Askani finden Sie auf der Webseite: www.tanja-askani.de
3. Informationen für einen Besuch bei Tanja Askani im Wildpark Lüneburger Heide finden Sie hier!
4. Dieses Interview entstand in enger Zusammenarbeit mit Stefan Gofferjé , Chefredakteur des finnischen Naturmagazins „Susilauma“, (hier der Link zur Webseite). Wolfsmonitor bedankt sich herzlich für die Unterstützung!